- Lyrik: Das Spektrum moderner Lyrik
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Der Begriff »moderne Lyrik« wird in der Literaturwissenschaft in der Regel als Bezeichnung für die Dichtung der Epoche verstanden, die man die Moderne nennt. Die Datierung dieser Epoche schwankt zwar, doch hat sich die Ansicht durchgesetzt, dass sie um die Mitte des 19. Jahrhunderts beginne und bis in die Gegenwart reiche. Die Lyrik dieser Zeit ist gekennzeichnet durch einen »Traditionsbruch«, so der Romanist Hugo Friedrich: durch eine deutliche, oftmals radikale Abweichung von der Dichtung der vorangegangenen Epochen, insbesondere der Klassik und der Romantik. Die moderne Lyrik ist dabei jedoch keine homogene Erscheinung. Ihre Neuartigkeit lässt sich nicht auf einen Begriff bringen. Es ist insbesondere unmöglich, die Dichtung der Moderne durch einen bestimmten literarischen Stil zu definieren.Die Geschichte der modernen Lyrik beginnt um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Frankreich mit Charles Baudelaires Gedichtband »Die Blumen des Bösen« von 1857. Baudelaire veröffentlichte zu Lebzeiten nur zwei Bücher. Dieses schmale Werk hat genügt, um seinen Ruhm als der moderne Dichter zu begründen. »Baudelaire«, schrieb der englische Lyriker und Literatur-Nobelpreis-Träger T.S. Eliot, »ist in der Tat das größte Beispiel moderner Dichtung in irgendeiner Sprache, denn sein Vers und seine Sprache bedeuten die größte Annäherung an eine vollständige Erneuerung, die wir erlebt haben«. Zahlreiche moderne Dichter haben sich später auf Baudelaire bezogen. Weitere bekannte Vertreter der frühen Moderne in Frankreich waren Stéphane Mallarmé, etwa mit seiner Gedichtsammlung »Poésies« (1887) und Arthur Rimbaud, der die bedeutende Dichtung »Das trunkene Schiff« verfasste. Von Frankreich aus hat sich die moderne Lyrik über die ganze Welt verbreitet. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts entstand moderne Dichtung zunächst in Europa und Lateinamerika, dann auch in den USA, schließlich sogar in Afrika und China. In Deutschland verfassten seit den Neunzigerjahren des 19. Jahrhunderts Stefan George und Arno Holz moderne Lyrik. Der bedeutendste, aber auch einer der schwierigsten Lyriker der frühen Moderne in Deutschland ist Rainer Maria Rilke mit seinem Gedichtzyklus »Neue Gedichte« (1907). Zu verschiedenartig, fast nicht vergleichbar erscheinen die einzelnen Teile seines lyrischen Werks, das insgesamt durch überraschende Wandlungen, ja Sprünge gekennzeichnet ist. Im Ganzen lässt es jedoch eine poetische Energie erkennen, die in ihrem Bemühen um stete Veränderung auf ihre Weise beispielhaft modern ist.Die Geschichte der modernen Lyrik kann man grob in drei große Phasen einteilen: die frühe Moderne, die Zeit von der Mitte des 19. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, die klassische Moderne, die etwa von 1910 bis nach dem Zweiten Weltkrieg währte, und die späte Moderne. Diese letzte Phase ist weniger durch kühne Neuerungen als durch moderate Modifikationen und Synthesen gekennzeichnet. Sie war gerade in Deutschland deutlich von dem Bemühen geprägt, nach einer Zeit antimoderner Literatur, wie sie unter dem nationalsozialistischen Regime gefordert wurde, wieder Anschluss an die internationale moderne Poesie zu finden. Seinen Ausdruck fand dieses Bemühen unter anderem in einer ausgedehnten Übersetzertätigkeit jüngerer deutschsprachiger Lyriker nach 1945. Neben Hans Magnus Enzensberger, Erich Fried und Ingeborg Bachmann ist hier vor allem Paul Celan zu nennen, der unter anderem Gedichte aus dem Französischen, Italienischen, Portugiesischen, Hebräischen, Russischen und Englischen übertragen hat und als einer der bedeutendsten Übersetzer des 20. Jahrhunderts gilt.In ihrer Geschichte, zumal in der ersten und zweiten Phase, ist die moderne Lyrik durch einige große internationale Strömungen oder Richtungen geprägt worden. Dies sind vor allem der Symbolismus, der Futurismus und der Surrealismus. Symbolismus im engeren Sinn meint die Dichtung einer Gruppe junger französischer Lyriker, die sich während der zweiten Hälfte der Achtzigerjahre des 19. Jahrhunderts gebildet hat. Zu ihr gehörten unter anderen Jean Moréas, Gustave Kahn, Jules Laforgue und Henri Régnier. Das Symbol, das sich einer einfachen Übersetzung in Begriffe entzieht, galt ihnen als das beste Mittel, Analogien poetisch-bildhaft auszudrücken. Im weiteren Sinn schließt der Symbolismus aber auch die Dichtung Paul Verlaines und Stéphane Mallarmés ein, mit Einschränkungen sogar die Baudelaires. So verstanden, steht der Symbolismus am Anfang der modernen Lyrik, weshalb er auch lange Zeit mit ihm geradezu identifiziert worden ist. Der Symbolismus hat sich schnell international ausgebreitet. Seine wichtigsten Vertreter waren der junge Stefan George in Deutschland, Algernon Charles Swinburne und William Butler Yeats in England, Gabriele D'Annunzio in Italien, Rubén Darío in Nicaragua, Juan Ramón Jiménez in Spanien, Aleksandr Blok und Andrej Belyj in Russland. Später erfuhr er dann sogar noch eine Art Wiederaufnahme in der »neo-symbolistischen« Lyrik vor allem Paul Valérys.Die Futuristen strebten durch die Zerstörung sozialer und literarischer Konventionen eine sowohl poetische als auch ideologische Erneuerung an. Bedeutende futuristische Lyrik verfasste in Frankreich Guillaume Apollinaire, die als Gedichtsammlung »Calligrammes« 1918 erschien. Das futuristische Konzept der Simultaneität fand besonders in den Figurengedichten und Textbildern seinen Ausdruck. In Russland veröffentlichte 1912 die futuristische Avantgarde ein Manifest mit dem bezeichnenden Titel »Eine Ohrfeige dem allgemeinen Geschmack«. Ihre bedeutendsten Vertreter waren Welemir Chlebnikow und Wladimir Majakowskij mit dem Poem »Wolke in Hosen« (1915). In Deutschland beeinflusste der Futurismus vor allem die Gruppe der Expressionisten um die Zeitschrift »Der Sturm«, besonders August Stramm. Auch in der polnischen, der tschechischen, der portugiesischen und der brasilianischen Literatur hat er Spuren hinterlassen.Der Surrealismus entstand ebenfalls in Frankreich und breitete sich ähnlich schnell in Europa aus. Zu seinen Hauptakteuren gehören Louis Aragon, Paul Éluard, Jacques Prévert, Philippe Soupault und vor allem André Breton. In den Zwanziger- und Dreißigerjahren erlangte der Surrealismus Weltgeltung - durch Dichter wie den Italiener Francis Picabia, den Elsässer Hans Arp, die Spanier Rafael Alberti, Federico García Lorca und Vicente Aleixandre, den Mexikaner Octavio Paz und den Amerikaner Man Ray. Grundlegend für den Surrealismus ist der Versuch, durch die Literatur einen Zugang zu nicht rational fassbaren Bereichen der Wirklichkeit wie Traum oder Wahnsinn zu ermöglichen. Außer dem Symbolismus, dem Futurismus und dem Surrealismus - und zum Teil gleichzeitig mit ihnen - wirkten weitere Richtungen der modernen Lyrik über ihr Ursprungsland hinaus, so etwa der englische Imagismus, der deutsche Expressionismus und mehr noch die Konkrete Poesie.In ihrer Vielgestaltigkeit lässt sich die moderne Lyrik nicht auf einen Begriff bringen. Im Ganzen unterscheidet sie sich von früherer Lyrik zumindest entweder durch eine »neue Sprache«, wie es Hugo Friedrich formulierte, oder durch eine neue Form. Für die Kennzeichnung der neuen Sprache - oder genauer: der neuen Sprachverwendung moderner Dichtung - ist oft der Begriff der Verfremdung bemüht worden. Er meint poetische Verfahren, die die Aufgabe erfüllen, üblich gewordene Darstellungs- und Wahrnehmungsweisen zu verändern, ihnen ihre Selbstverständlichkeit zu nehmen und sie fremd zu machen. Je nach den sprachlichen Mitteln kann dies auf verschiedene Weise geschehen. Wichtige Mittel moderner Sprachverwendung in der Lyrik sind das Symbol, der Vergleich, die Metapher und die Montage.In Baudelaires Gedicht »Der Albatros« wird zum Beispiel ein Albatros, der zum Zeitvertreib der Besatzung auf einem Schiff gefangen gehalten wird, das Symbol für den Dichter, der als ein in die Gesellschaft, ja ins Leben »Verbannter« erscheint. Rilkes Gedicht »Die Gazelle« besteht wesentlich aus Vergleichen des Tieres - besonders seiner Art, sich zu bewegen - etwa mit den Reimen und den Worten von Liebesliedern, mit geladenen Gewehrläufen und schließlich mit einer sich umwendenden Badenden. Solche Vergleiche befremden, weil sie augenscheinlich völlig verschiedene Gegenstände kühn in eine Beziehung zueinander setzen. Auf diese Weise erscheint das Tier nicht nur in einem ganz neuen Licht; es wird auch zum Gleichnis für einen »Einklang« von Innen und Außen. In Ezra Pounds zweizeiligem Gedicht »In einer Station der Metro« werden zunächst Gesichter in der Pariser Metro, dann »Blütenblätter auf einem nassen, schwarzen Ast« erwähnt. Ohne ausdrücklich miteinander verglichen zu werden, werden sie zu einem knappen Bild der Vergänglichkeit.Noch deutlicher zeigt sich die neue Sprache moderner Lyrik in Gedichten, in denen Wörter und Begriffe aus den verschiedensten Bereichen in einem Montage-Verfahren ohne ausdrückliche Verbindung nebeneinander gesetzt werden - wie in etwa in Gottfried Benns Gedicht »Chaos«, dessen erste Zeilen lauten: »Chaos - Zeiten und Zonen / bluffende Mimikry, / großer Run der Äonen / In die Stunde des Nie -«. Auch eine solche Reihung, die zunächst keiner erkennbaren Sachlogik folgt, hat eine künstlerische Absicht. Das Chaos einer Geschichte und eines Lebens ohne Sinn und Ziel wird sowohl durch die Wortwahl als auch durch die Anordnung der Wörter offensichtlich.Noch einen Schritt weiter sind moderne Lyriker gegangen, die mit Elementen der Sprache spielen. Ihr Ziel war es, - mit einem programmatischen Ausdruck der Futuristen - die »Wörter in Freiheit« zu setzen. Dies kann etwa durch die Auflösung des Satzes geschehen wie zum Beispiel in August Stramms Gedicht »Urtod«, das Wörter wie »Raum / Zeit / Raum / Wegen / Regen / Richten« grammatisch und syntaktisch verbindungslos aneinander reiht. Andere moderne Autoren sind sogar dazu übergegangen, einzelne Wörter ganz in ihre Bestandteile, etwa in ihre Buchstaben aufzulösen - wie etwa Ernst Jandl in seinem »bericht über malmö«, der mit den Zeilen beginnt: »l/ m/ ö/ m/ a/ öl/ m/ öl/ mal«. Am radikalsten ist die moderne Lyrik in ihrer Sprachverwendung da, wo sie alle geltenden Regeln uns bekannter Sprachen aufhebt, ja eine neue Sprache schafft. Eines der bekanntesten Beispiele dafür ist Hugo Balls Gedicht »Karawane«, in dem, vom Titel abgesehen, kein Wort einer herkömmlichen Sprache vorkommt, sondern nur noch Fantasieworte wie »jolifanto bambla ô falli bambla«. Sie lassen sich als eine Art von Sprachmusik verstehen, die die exotische Geräuschkulisse einer Karawane wiedergeben soll. Obwohl experimentell, ist diese Lyrik oft bewusst komisch - ein weiteres Beispiel ist Christian Morgensterns berühmtes Gedicht »Das große Lalula«, das endet mit: »Siri Suri Sei! / Lalu lalu lalu lalu la!«.Solche in mehr als nur einem Sinn sprachspielerische Lyrik lebt nicht selten von dem Glauben an die magische Kraft der Sprache. Alle überkommene Ordnung der Sprache, ja jede herkömmliche Sprache lässt sie hinter sich, um den Zugang zu neuen Erfahrungen zu ermöglichen. Sie stellt in solcher Sprachverfallenheit ein Extrem der modernen Dichtung dar, das oft als »absolute Dichtung« bezeichnet wird. Mit dem Ausdruck ist Literatur gemeint, die sich nicht mehr mit außerliterarischen Realitäten, sondern allein mit sich selbst beschäftigt: mit Dichtung und Sprache. Als wichtigste Vertreter einer solchen absoluten Lyrik gelten in Deutschland Stefan George in seinem Früh- und Gottfried Benn in seinem mittleren Werk.Ihr steht als anderes Extrem moderner Poesie eine wirklichkeitsbezogene, politisch engagierte Lyrik gegenüber. Auch politische Dichtung kennt die Moderne seit ihren Anfängen. Berühmte Beispiele dafür sind Rimbauds Gedicht »Die Armen in der Kirche« oder Baudelaires großes Gedicht »Der Schwan«, das von dem »neuen Paris« Napoleons III. handelt und immer wieder als Baudelaires Parteinahme für die demokratische Opposition gegen den Kaiser gedeutet worden ist.Zu den bedeutendsten Vertretern moderner politischer Lyrik zählt neben dem russischen Dichter Wladimir Majakowskij und dem chilenischen Nobelpreisträger Pablo Neruda Bertolt Brecht. Dessen im Exil entstandenen »Svendborger Gedichte« (1939) zum Beispiel sind ein Werk des Kampfes gegen den Nationalsozialismus. Mit kurzen, zugespitzt formulierten Gedichten wie »AUF DER MAUER STAND MIT KREIDE: / Sie wollen den Krieg. / Der es geschrieben hat / Ist schon gefallen.« hat er eine Tradition der politischen Epigrammatik begründet, die bei Autoren wie Erich Fried, Reiner Kunze oder Wolf Biermann bis in die Gegenwart hinein wirksam ist. Politische Lyrik ist in der Moderne aber nicht notwendig sozialistisch oder kommunistisch. Der prominenteste Dichter der politischen Rechte ist der Amerikaner Ezra Pound, der ein Parteigänger des italienischen Faschismus war und noch in seinen nach Kriegsende geschriebenen »Pisaner Cantos« etwa seine antikapitalistische, aber auch antisemitische Theorie des Wuchers dargelegt hat. Zu der politischen Lyrik der Moderne ist schließlich auch die Holocaust-Lyrik zu rechnen: Dichtung über die Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden. Ihre bedeutendsten Beispiele in der deutschen Literatur sind Nelly Sachs' Zyklus »In den Wohnungen des Todes« und Paul Celans Gedicht »Todesfuge«. In solcher Holocaust-Dichtung manifestiert sich der hohe moralische Anspruch moderner Lyrik; durch den Versuch, das äußerste Grauen poetisch darzustellen, gelangt in ihr moderne Dichtung allerdings ästhetisch auch an ihre Grenze: Holocaust-Dichtung ist Kunst auf der äußersten Grenze der Kunst.Die neue Form moderner Lyrik ist am besten mit dem Begriff des freien Verses zu charakterisieren. Freie Verse sind frei von all den Bindungen, denen Verse traditionell unterworfen waren. Sie sind ungereimt, ohne durchgehendes Versmaß, von wechselnder Silbenzahl und ohne strophische Gliederung. Die äußere Form von Gedichten in freien Versen ist unregelmäßig: Die Zeilen wie die Versgruppen sind von unterschiedlicher Länge. Trotz solcher Unregelmäßigkeit sind die Verspausen nicht beliebig gesetzt. Als Sprechverse, die der ungebundenen Sprache der Prosa und oft auch der gesprochenen Sprache des Alltags nahe sind, haben freie Verse durch ihre besondere Gliederung vielmehr einen eigenen Rhythmus. Durch Verspausen können einzelne Wörter oder Wortgruppen hervorgehoben und Verbindungen zwischen ihnen angedeutet werden. So platzierte Brecht oft adversative Konjunktionen wie »aber« oder »jedoch« an Versanfang oder -ende, um Widersprüche zu betonen - etwa in »Schlechte Zeit für Lyrik«: »Der verkrüppelte Baum im Hof / Zeigt auf den schlechten Boden, aber / Die Vorübergehenden schimpfen ihn einen Krüppel / Doch mit Recht.«Der freie Vers, den bereits Rimbaud wie auch die französischen Symbolisten - zum Beispiel Gustave Kahn verwendeten, wurde zu einem internationalen Phänomen. In Deutschland erschien er als »natürlicher Rhythmus« zuerst bei Arno Holz in dessen Gedichtsammlung »Phantasus« (1898-99), etwas später als »Verso libero« bei italienischen Dichtern wie Marinetti. Als »Free verse« wurde er kurz nach der Jahrhundertwende von den englischen Imagisten um den jungen Pound entwickelt, schließlich als »Verso libre« oder »ametrico« von spanischen Lyrikern wie Juan Ramón Jiménez. Spätere Dichter wie der Italiener Giuseppe Ungaretti, der Amerikaner William Carlos Williams, Brecht und Celan haben den freien Vers zu der beherrschenden Form moderner Gedichte gemacht.Der freie Vers ist allerdings nicht die einzige Form moderner Gedichte. Viele Dichter des 19. wie des 20. Jahrhunderts benutzten weiterhin traditionelle, auch streng geregelte Formen. So verfasste Baudelaire zahlreiche Sonette, das Werk T.S. Eliots ist mitunter geradezu klassizistisch und formstreng wie auch Paul Valérys Lyrik. Gottfried Benn bevorzugte seit den Zwanzigerjahren achtzeilige Reimstrophen. Nicht wenige, vorderhand eher der Tradition verpflichtete Lyriker haben allerdings versucht, herkömmliche Formen zu erneuern, um ihnen neue Ausdrucksmöglichkeiten abzugewinnen. Zu diesen Dichtern gehören in der frühen Moderne etwa Rilke, der in seinen »Neuen Gedichten« die Form des Sonetts wie kaum einer zuvor verwandelt hat, und in der späten Moderne Peter Rühmkorf, der sich seit langem erfolgreich theoretisch und praktisch um eine Erneuerung des Reimgedichts in der deutschen Literatur bemüht.Die Sprach- wie die Formexperimente moderner Dichter lassen sich insgesamt als ein großer Versuch begreifen, die Ausdrucksmöglichkeiten poetischer Sprache zu erweitern. Zu dieser Bemühung gehören auch die Annäherungen moderner Lyrik an bildende Kunst und Musik. Schon Baudelaire, der sich auch als Kunstkritiker einen Namen machen konnte, sah sein künstlerisches Vorbild in einem Maler: Eugène Delacroix, den er als Meister eines »supranaturalen« Stils verehrte. In dem Gedicht »Die Leuchtfeuer« versuchte er, einige große Maler poetisch zu porträtieren: Rubens, Rembrandt, Michelangelo, Goya und eben Delacroix. Dieser Versuch eines Brückenschlags zwischen Literatur und Kunst, ja einer »Synthese« der Künste, ist etwa von Lyrikern wie Guillaume Apollinaire in seinen auf der Handschrift basierenden »Calligrammes«, von William Carlos Williams mit seinem Zyklus »Brueghel-Bilder«, einer Sammlung realistischer Bildbeschreibungen, oder von Rafael Alberti in seinem Buch »An die Malerei« fortgesetzt worden, das aus weniger realistischen als imaginativen Gedichten über Maler, Farben oder Komposition besteht.Diese Versuche erhielten eine neue Qualität in den visuellen Experimenten moderner Lyriker. Am Anfang steht Stéphane Mallarmé mit seinem großen, die traditionelle grafische Gestaltung auflösenden Gedicht »Un Coup de Dés« (»Ein Würfelwurf«), in dem ohne Interpunktion die einzelnen Wörter und Verse in unterschiedlicher Anordnung über die jeweilige Seite verteilt, »gewürfelt« werden. Fortgesetzt wurden solche Experimente in Figuren- und Umrissgedichten wie Christian Morgensterns »Die Trichter«. Ihren Höhepunkt fanden sie in den abstrakten visuellen Texten eines Marinetti oder Kurt Schwitters (»Gesetztes Bildgedicht«), in denen die herkömmliche Anordnung von Wörtern in Versen aufgehoben ist. Solche Experimente mit dem Material der Sprache, ihrer äußeren Gestalt, der Schrift, ihrer Laut- und Klangseite, aber auch ihrer Bedeutung, hat die Konkrete Poesie in den Fünfziger- und Sechzigerjahren fortgeführt.Zu den Grenzüberschreitungen moderner Lyrik gehört schließlich auch der Versuch einer neuen Verbindung mit der Musik jenseits des traditionellen Kunstliedes. So sind nicht nur zahlreiche Gedichte über Musik entstanden wie etwa Rilkes »An die Musik«, sondern auch Gedichte nach musikalischen Prinzipien: Gedichte, die musikalische Kompositionsformen übernehmen wie etwa T.S. Eliots »Vier Quartette«, aber auch Gedichte, die aus »Wortmusik« bestehen wie Hugo Balls »Karawane«, oder die vielen lautmalerischen Gedichte Ernst Jandls. Zahlreiche moderne Lyriker haben auch die Zusammenarbeit mit zeitgenössischen Komponisten gesucht - Brecht mit Kurt Weill und Hanns Eisler, Ingeborg Bachmann mit Hans Werner Henze. Andere Dichter haben versucht, ihre Gedichte zu (populärer) Musik vorzutragen - etwa zu Jazz-Musik wie Lawrence Ferlinghetti und andere Lyriker des Beat-Movement in den USA oder wie Peter Rühmkorf in Deutschland. Von dieser Öffnung hat nicht zuletzt die zeitgenössische Popmusik profitiert, die durch Liedermacher wie Leonard Cohen und Bob Dylan Anschluss an die moderne Lyrik gefunden hat.Die moderne Lyrik hat sich fast über die ganze Welt verbreitet - von Europa nicht nur bis nach Amerika, sondern auch bis nach Afrika, ja bis nach China. Der Surrealismus hat die afrikanische Kunst für Europa entdeckt und eine moderne schwarzafrikanische Lyrik in französischer Sprache gefördert, deren bekannteste Vertreter Léopold Senghor und Aimé Césaire geworden sind. Auch was man in China als »neue Lyrik« (»xin shi«) bezeichnet, ist vielfach durch die moderne europäische Lyrik seit dem Symbolismus angeregt worden. Hu Shi, der meist als der »Vater« der neuen chinesischen Lyrik apostrophiert wird, ist von Ezra Pound beeinflusst; Guo Moruo, der vielleicht bedeutendste Übersetzer unter den chinesischen Dichtern unseres Jahrhunderts, ebenso von Walt Whitman wie von den deutschen Expressionisten; Feng Zhi, der Meister des chinesischen Sonetts, von Rilke; Dai Wangshu schließlich, einer der kühnsten jüngeren Lyriker, besonders von den Surrealisten.Diese weite Verbeitung zeugt von der Kraft der modernen Lyrik. Trotzdem gilt sie vielen bereits als ein historisches Phänomen. Seit den Sechzigerjahren ist, zumal in den USA und in Deutschland, von »postmoderner Literatur« die Rede. Rolf Dieter Brinkmann galt eine Zeit lang als ihr wichtigster Vertreter in Deutschland. Postmoderne Lyrik in seinem Sinn ist buchstäblich oberflächliche, nämlich an der visuellen Oberfläche und an den »Trivialmythen« der populären Kultur, insbesondere des Films orientierte Literatur, die sich insbesondere vom hohen Stil mancher moderner Lyrik absetzt. Das Vorbild dieser Dichtung ist die amerikanische Literatur im Umkreis von Beat-Dichtern wie Frank O'Hara. Zumindest in Deutschland konnte sie die (Spät-)Moderne allerdings kaum verdrängen.Zwar gibt es seit längerem insofern Anzeichen für eine Ermüdung der modernen Lyrik, als der Spielraum für weitere Neuerungen schon seit der klassischen Phase erheblich eingeschränkt ist - weshalb die moderne Poesie auch kaum noch in der Lage ist, ihren Anspruch auf ständige Veränderung und Weiterentwicklung zu erfüllen. Doch hat sich bislang eine deutlich andere postmoderne Lyrik, die ähnlich radikal mit der Moderne gebrochen hätte wie diese mit der Klassik oder der Romantik, noch nicht durchgesetzt.Prof. Dr. Dieter LampingAmerikanische Literaturgeschichte, herausgegeben von Hubert Zapf. Stuttgart u. a. 1997.Commonwealth-Literatur, herausgegeben von Jürgen Schäfer. Düsseldorf u. a. 1981.Englische Literaturgeschichte, herausgegeben von Hans Ulrich Seeber. Stuttgart u. a. 21993.Hamburger, Michael: Wahrheit und Poesie. Spannungen in der modernen Lyrik von Baudelaire bis zur Gegenwart. Aus dem Englischen. Neuausgabe Wien u. a. 1995.Lamping, Dieter: Moderne Lyrik. Eine Einführung. Göttingen 1991.
Universal-Lexikon. 2012.